Das Jüdische Logbuch 08. Feb 2019

Gespräch auf dem Hügel

Fiesole, Februar 2019. Der Tag ist noch jung. Die Sonne bricht durch die Wolkendecke und legt den Blick auf Florenz frei. Fern ragen die Kuppeln der Kathedrale und der Synagoge von Florenz gen Himmel. Die mythische Szenerie nimmt gleich einer Novelle von Guy de Maupassant das Abendgespräch schon in der naturgewaltigen Darbietung vorweg. Auf dem Hügel über der toskanischen Hauptstadt diskutiert eine Gruppe von Wissenschaftlern, Musikern und Übersetzern. Juden, Christen und Atheisten. Die Werke von Leonardo da Vinci, der «David» von Michelangelo und anderer mittelalterlicher oder Renaissance-Künstler leiten die Fragen rund um die Verortung von Mensch und Gesellschaft ein. Der Sammler von mittelalterlichen Drucken ist auf der Suche nach dem Menschenbild der damaligen Zeit. Es ist Abend geworden. Milde. Die Vögel singen immer noch, also ob sie den Frühling herbeizwitschern wollten. «Wann hat der Mensch Gott erfunden?» Die Antwort bleibt offen. Doch sie macht den Weg frei für die verschiedenen Zugänge der Kulturen im Umgang mit Mythen. Waren es Schriften von Baruch de Spinoza, Thomas Hobbes oder René Descarters, die in Europa die Gottesfrage neu formulierten, Glauben und Götter hinterfragten. Glaubte Hiob bereits nicht mehr oder ist der abrahamitische Mythos ein erstes Indiz der Relativierung jeglicher absoluter Vorstellung? War Maimonides vielleicht sogar Agnostiker? Welchen Einfluss hatte die Gegenreformation auf Gottes- und Menschenbilder? Die Frage als Diktum, die Antwort als Möglichkeit, das Gespräch als Annäherung von Menschen mit unterschiedlicher Herkunft, Sozialisation, Religion zum Verständnis dessen, was eine Gesellschaft umgibt. Längst ist es dunkle Nacht. Längst ist klar, dass viele Fragen sich besser in Kunst oder Musik reflektieren denn in Textexegesen mit all ihrer Unverbindlichkeit – Kunst, die vielleicht am Anfang jeglicher Religion und Kultur steht. So wie der Religionsphilosoph Ludwig Feuerbach im 19. Jahrhundert Gott als Projektion des Menschen feststellte und schlussfolgerte: «Der Mensch schuf Gott.» Was wiederum nicht wenige bis heute als Blasphemie, Frevel oder Sakrileg auslegen, mag vielleicht auch nur die andere, vielleicht richtigere Lesart der Genesis sein, wenn der Mensch im Ebenbild Gottes oder eben umgekehrt geschaffen wurde. Das Eben- und das Bild, das sich gemäss Dekalog keiner machen sollte. Das Göttliche entzieht sich durch das Bildverbot der menschlichen Vorstellungskraft in dem Moment, da der Mensch sich ein Bildnis nicht machen soll; wider die menschliche Natur des Denkens. Ist das Judentum agnostisch? Waren es die grossen jüdischen Denkerinnen und Denker? Gott als Möglichkeit und nicht als Dogma. Die Frage bleibt offen ebenso wie alle jene unausgesprochen beantwortet werden, die auf die Existenz zulaufen und seit der Moderne in Bantwortung lauten müssten: Jede Relativierung des Absoluten stellt sich der Barbarei entgegen.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann