Das Jüdische Logbuch 11. Jan 2019

Deutschland statt Brexit

London, Januar 2019. Das neue Jahr startet für Europa mit kaum einschätzbaren Herausforderungen. Die bremsende Wirtschaft, volatile bis fallende Börsen und ein drohender ungeordneter Brexit sind Ingredienzien für Sorgen allenthalben und in der jüdischen Gemeinschaft Grossbritanniens. Denn der grösste Garant für Sicherheit oder zumindest ein intaktes Sicherheitsgefühl der Gemeinschaft war in der Regel jeweils wirtschaftliche Stabilität. In den Strassen Londons geht’s verhältnismässig gemächlich zu. Trotz «Sales» sind die Strassen kaum gefüllt, keine Staus oder Menschenströme. Das Wetter ist Milde. Vor den Pubs diskutieren die Buisnessleute die Auswirkungen der neuesten Entwicklung im Brexit-Debakel. Wenige Tage vor der wichtigen Abstimmung über das EU-Austrittsabkommen von Regierungschefin Theresa May haben die Abgeordneten im britischen Parlament die Spielregeln geändert. Die Regierung muss innerhalb von drei Sitzungstagen einen Plan B vorlegen, sollte Mays Brexit-Vertrag am kommenden Dienstag abgelehnt werden. Bislang war vorgesehen, dass die Regierung mindestens zwei Wochen Zeit hat. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft finden sich kaum Brexit-Anhänger. Der Austritt bringt Ängste vor wirtschaftlichen Einbussen, bei Neuwahlen jene vor einer Wahl des linken Jeremy Corbin und möglichen antisemitischen Auswirkungen (tachles berichtete). Viele haben in den letzten Monaten doppelte Staatsbürgerschaften vor allem in Deutschland beantragt. Artikel 116 im Grundgesetz begünstigt Menschen, denen in der Nazizeit die deutsche Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden war, sowie deren Nachfahren. Für viele ist es ein Pass nach Europa und ein paradoxer Schritt zumal. Deutschland als Hoffnungshafen für eine ungewisse Zukunft. Für immer mehr junge Jüdinnen und Juden in England, Israel und anderen Ländern ist das eine greifbare Option geworden. Sie wollen Teil von Europa bleiben, offenen Zugang zu Wirtschaft, Handel und unbeschränkter Reisefreizügigkeit haben und sehen in der Grundidee der EU einen Friedensgaranten und Schutz für Minderheiten gerade in Zeiten zunehmender Nationalisierung von Staaten.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann