Das jüdische Logbuch 25. Mai 2018

Minhag versus Globalisierung

Venedig, Mai 2018. «Wollen Sie in den Gottesdienst der Gemeinde oder zu Chabad?» fragt der Türsteher programmatisch auf Hebräisch vor der spanischen Synagoge im alten Ghetto von Venedig. Es ist kurz vor halb acht. Die Schatten der hohen Gebäude im Ghetto werden schon länger, von den tagsüber sonnengeheizten Steinplatten am Boden steigt Wärme auf und vermischt sich mit dem kühlenden Wind. Durch die belebten Gassen laufen einheimische Juden in Richtung Synagoge. Die einen kommen vom Schiur im Gemeindezentrum um die Ecke, die anderen von zu Hause mit den Kindern. Auf dem Platz im Ghetto Nuovo schlendern ausländische jüdische Besucher, die für Schauwot nach Venedig gekommen sind, israelische und viele andere Touristen. Junge Mitglieder von Chabad mit chassidischem Look locken die jüdischen Touristen in ihre Gebetsräume rund um den Platz. Die jüdischen Einheimischen bleiben unter sich, laufen in Richtung spanische Synagoge und halten sich aus dem Treiben heraus. Rasch wird klar: Hier prallen nicht nur Welten und Geschichte, sondern auch Auffassungen von Judentum aufeinander. Die Venezianer halten ihre Tradition hoch, Chabad importiert eine globale Version von Judentum. Die Venezianer inkludieren Gäste zurückhaltend, Chabad hat eine Mission. Schliesslich gewährt der Türsteher Einlass zu Mincha und Maariw, als er die Gewissheit hat, dass hier keine weiteren Touristen, sondern Besucher ohne Fotoapparat zum Gebet gehen wollen. Es sind diese wenigen Quadratmeter Ghetto, die über die jüdische Emanzipation, Diskriminierung, Integration oder Entwicklung der eigenen Tradition weit mehr über die Lagunenstadt erzählen und zugleich symptomatisch die Entwicklung des Judentums in den letzten Jahrzehnten nach der Schoah und inmitten der Moderne widerspiegeln. Heute leben noch 500 Jüdinnen und Juden in Venedig. Sie legen Wert auf die Wahrung der eigenen Riten und Liturgien. So überrascht nicht, dass in Venedig die Megilat Ruth zu Schawuot zum Eingang des zweiten Tags abends gelesen wird. In den meisten Gemeinden geschieht dies nach dem Morgengebet des ersten Tages Schawuot. Der venezianische Nussach und Minhag divergiert wie in vielen Orten lokal vom allgemeinen bzw. von jenem in der Halacha. Innerhalb der jüdischen Tradition ergänzen der Minhag und Nussach die gesetzge-
berische Halacha und heben den Stellenwert der lokalen Traditionen hervor. Der sogenannte Minhag Hamakom – sozusagen der Rhythmus und die Tradition des Ortes – ist oft stärker als die allgemeine Tradition oder manchmal auch die Halacha und kann wenige Kilometer weiter in einer anderen Gemeinde, mit anderer Tradition, anderen ethnisch-jüdischen Hintergründen anders sein. Ein Zeugnis davon, wie stark die jüdischen Gemeinden mit ihren eigenen Rabbinaten waren und durchaus beeinflusst oder im Einklang mit lokalen allgemeinen Traditionen standen. In England mündete das in der Formel «God save the Queen» am Ende der Gottesdienste, was an anderen Orten nahe an Götzenverehrung bzw. dem Verbot stehen würde, keine anderen Heiligen zu verehren. Ein weites Themenfeld, das in den letzten Jahrzehnten im Angesicht von Globalisierung, der zunehmenden direkten oder indirekten Einflussnahme des israelischen Oberrabbinats oder eben der globalen Entfaltung der Chabadbewegung eine ganz neue Relevanz erhalten hat. Denn gerade dort, wo Chabad auf alteingesesse Gemeinden trifft und nicht Judentum in Orte bringt, da es kein solches mehr gibt, entsteht nicht immer nur Ergänzung des Angebots, sondern Konkurrenz von Judentümern. In Venedig prallen der Jahrhunderte gewachsene Minhag Hamakom der alteingesessenen Juden auf das globalisierte Judentum von Chabad. Dort folgt man erfolgreich dem einst in Brooklyn, New York verstorbenen Rabbi Schneerson. In der spanischen Synagoge wird inzwischen die Megilat Ruth gelesen, und die Pracht des alten Gemäuers überwältigt. Zurück auf der Strasse kontrastieren amerikanische Juden das angestammte Judentum des Ghettos mit seinen sefardischen Einflüssen mit jüdischer Folklore und Kitsch, vor den schlichten Gebetsräumen Chabads stehen Plastikstühle, Touristen werden zum Gebet geladen. Der Abend ist noch hell, die Sonne entschwunden und die Dämmerung flutet die Gassen. Bei der Brücke am Ausgang des neuen Ghettos sitzt ein alter, religiöser amerikanischer Jude. Er ist in ein intensives Gespräch mit seiner inzwischen auch nicht mehr so jungen Tochter versunken. Sie spricht breites Amerikanisch, er mit osteuropäischem Akzent. Ein Bild aus anderer Zeit beim raschen Hinsehen und Shylock vor Augen, da kurz der Gedanke kommt und sogleich wieder mit Überqueren der Brücke entschwindet: auf welches Judentum hätte sich Shylock wohl berufen und wie wäre der Prozess wohl ausgegangen?

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann