Das Jüdische Logbuch 08. Jun 2018

Hiob und arabische Liebesdichtung

Köln, Juni 2018. Der Weg führt vorbei an Stolpersteinen. Immer und immer wieder. Mehr und mehr. Vor dem Kölner Dom auf dem Weg zum WDR erinnern sie an Familie Goldschmidt. Flucht nach Holland. Internierung in Westerbork. Ermordung in Sobibor. Es ist ein langer Spaziergang an diesem heissen Junitag. Passanten bleiben stehen, blicken auf die in der prallen Sonne glänzenden Bronzesteine. Andere laufen darüber hinweg, den Kopf auf die Domspitze in immenser Höhe gerichtet. Der Weg führt vorbei an der Synagoge von Köln. Dort besuchte vor rund zehn Jahren der deutsche Papst Benedikt im Rahmen des katholischen Jugendtags die jüdische Gemeinde und prägte das Credo vom Judentum als den älteren Brüdern und Schwestern. Die Namen auf den Stolpersteinen fügen sich zu neuen Geschichten zusammen in diesem Köln unweit der traditionellen Schum-Städte Worms, Speyer, Mainz am Mittelrhein. Sie sollen von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt werden. Der muslimische Freund erzählt auf dem Spaziergang von seiner Kindheit in Köln in den 1980er-Jahren. Als kleiner Junge ist er unweit der Stadt in Solingen aufgewachsen nach seiner Emigration nach Deutschland. Das Solingen, das vor wenigen Tagen an das genau vor 20 Jahren von rechtsextremen niedergebrannte Flüchtlingsheim mit vielen Toten erinnerte. Das Gespräch in der Rheinstadt von der Kindheitserfahrung bis hin zur politischen Aktualität und erlebten Wirklichkeit von Minderheiten in einer aufgeladenen medialen Zeit mündet schliesslich in einen Ausblick auf den im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu Michel Houellebecqs als Spielfilm mit anschlies­sender Diskussion inszenierten Themenabend zu dessen Buch «Unterwerfung» und die Art der Aufarbeitung des aktuellen Skandals des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge von Bremen. Was bedeutet diese Art der wichtigen Debatte für Minderheiten abseits von Medienunterhaltung und elitärem Zugang im Alltag, in der Schule, in der Arbeitswelt? Wie können solche Diskussionen integrierend und nicht diffamierend geführt, wie wichtige Fakten auf den Tisch und offen, aber mit einem Mehrwert an Kompetenz eingebracht werden? Der Spaziergang endet wie jedes Mal in der Lengfeld'schen Buchhandlung, wo alle auf dem Spaziergang diskutierten Themen und Erinnerungen zusammenfliessen. Eine Perle unter Deutschlands Buchhandlungen. Eine der Buchhandlungen, die ihr Programm pflegen, wöchentliche Veranstaltungen oder Langzeitlesungen durchführen. Zurzeit mit Werken von Michail Ossorgin. Die Buchhändlerin schwärmt für «Eine Strasse in Moskau». Gekauft. Sie führt durch die Lektüren, Neuerscheinungen und alten Klassiker. Erzählt faszinierend, exakt, ordnet ein. Kein Verkaufs-, sondern ein Gespräch über Geschichten und Inhalte. Es stehen Sofas und Leseecken bereit. Lesen ohne Kaufzwang. Durch die wunderbaren Auslagen in drei grossen Schaufenstern scheint die Sonne über Exil-, Reise- und aktuelle Literatur. «Die Katzen» von Julio Cortázar, die soeben erschienene Übersetzung von Fernando Pessoas «Ich ich ich», die Übersetzung arabischer Liebesgedichte, Ulrich Alexander Boschwitz’ «Der Reisende», Michel Bergmanns «Weinhebers Koffer». Diese Bücher sind es diesmal. Und die neue wunderschön gebundene und inszenierte Edition von Joseph Roths «Hiob». Hiob gleich zweimal. So oft gelesen und wieder relevant. Das Schicksal des Thoralehrers Mendel Singer, das heute für so viele Auswanderer steht, die ihr gesamtes Leben hinter sich lassen und in der Fremde neu beginnen. Der muslimische Freund liest bereits, während die Buchhändlerin traurig mit Blick auf die Ausgaben von Simone de Beauvoir oder Alfred Polgar erzählt, dass die wunderbaren Bildbände des Kölner Kunstbuchverlags eingestellt werden. Mit einordnendem und die Gedanken hebendem literarischem Gepäck eilen der Freund und ich auf die Züge nach Berlin und Basel vorüber an den Stolpersteinen bis hin zum Hauptbahnhof. «Hiob» in der Hand, die Erinnerungen an Kindheit und Zeitgeschichte vor Augen, Schritt für Schritt an den Stolpersteinen vorbei. Ein letzter Espresso, ein letztes Wort und Joseph Roths Zeile: «Mendel schlief ein. Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Grösse der Wunder.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann