Das Jüdische Logbuch 30. Nov 2018

Gleichberechtigung zuerst

Bern, November 2018. Es sind verstörende Gespräche mit jüdischen Wählern nach dem Abstimmungssonntag in Zürich, Bern, Basel. Mehr als erwartet haben ein Ja zur Selbstbestimmungsinitiative (SBI) in die Abstimmungsurne gelegt und sprechen offen darüber. Mit der SBI ist am letzten Sonntag eine weitere Vorlage abgeschmettert worden, die im Falle einer Annahme eine Eruption hätte zur Folge haben können: Die Schweiz hätte Grund- und Menschenrechte nationalisiert und sich aus der Staatengemeinschaft ausgegliedert, die mit ihrer Allianz als Garant für diese steht. Die SVP-Vorlage hat die vorgelegte Fragestellung der Matrix von linken und rechten Positionen unterworfen. Doch sie betrifft nicht die Parteipolitik, sondern die Raison d’être einer offenen Demokratie. Das haben der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) oder etwa die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) erkannt und Kampagnen gegen eine Annahme der Initiative geführt. Zumindest per Anzeigen in verschiedenen Zeitungen (auch in tachles). Das ist gut und wichtig. Lange haben sich jüdische Verbände aktiv nicht mehr öffentlich positioniert, engagiert und die politische Debatte abseits von Stellungnahmen bei Vernehmlassungen geführt. Zu lange. In zunehmend aufgeladenen politischen Zeiten, da die Annahme solcher Vorlagen gerade für mitunter künstlich definierte homogene Minderheiten keine Nuance, sondern eine fundamentale Veränderung hin zur nationalen Isolation bedeuten kann, ist politisches Engagement die erste und die letzte Maxime. Doch die jüdischen Verbände und Gemeinden haben es verpasst, die Debatte in die jüdische Gemeinschaft zu tragen, die sie zu vertreten vorgeben. Jüdische Bürgerinnen und Bürger sind zuerst Schweizerinnen und Schweizer und nicht Teil einer von «aussen» vordefinierten und von «innen» immer wieder unter dem Label «Schweizer Juden» vorgegaukelten homogenen Einheit. Wer solch eine Einheit schaffen möchte, muss Debatten in der Gemeinschaft führen, die vertreten werden möchte. Nicht wenige Jüdinnen und Juden habe für die Vorlage des letzten Sonntags gestimmt, wie auch jüdische Offizielle gegenüber tachles bestätigt haben. Zum einen ist diese freie Wahl wider die Vereinnahmung mehr als legitim. Zum anderen müssen jüdische Verbände innerhalb der Gemeinschaft politische und aufgeklärte Debatten führen – Kohärenz schaffen zu dem, was nach aussen eingefordert und nach innen nicht immer gelebt wird. Denn öffentliche Kampagnen sind kein Selbstzweck, sondern müssen in der jüdischen Gemeinschaft debattiert, verhandelt und eingebracht werden, um Mehrheiten zu generieren. Die nächsten Vorlagen sind in Arbeit, auch solche, die spezifisch jüdische Kernthemen wie zum Beispiel Schächten oder Beschneidung betreffen. Die frühzeitige Diskussion darüber mit jüdischen Bürgerinnen und Bürgern ist wichtig. Bis dahin sollten sich SIG und GRA auch dafür einsetzen, dass innerhalb der jüdischen Gemeinden die Grundrechte garantiert sind. Dazu gehört vor allem, dass sämtliche Mitgliedsgemeinden des SIG das Frauenstimmrecht und die Gleichberechtigung ihrer Mitglieder kennen, und dass in den Leitungsgremien der GRA keine Repräsentanten sitzen, die Gemeinden angehören, die das Frauenstimmrecht nicht kennen. Denn wie will sich eine Organisation glaubwürdig gegen Diskriminierung und Rassismus Antisemitismus einsetzen, wenn deren Exponenten aus jüdischen Gemeinden stammen, die noch hinter der 1971 eingeführten gesetzlichen Gleichberechtigung stehen? Öffentliche politische Kampagnen sind gut. Redlichkeit ist wichtiger und Voraussetzung für jede berechtigte und wichtige politische Agitation. Daher bleibt zu hoffen, dass der SIG, jüdische Organisationen und Gemeinden für das Jahr 2019 endlich die Gleichberechtigung von Frauen in allen jüdischen Gemeinden der Schweiz thematisieren und garantieren.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann