Das jüdische Logbuch 18. Mai 2018

Arabischer Jude

Saint-Paul-de-Vence, Mai 2018. «Ich trinke jeden Tag zuerst sechs Ristretto» sagt Monsieur Cohen nach der erneuten Bestellung beim Kellner. Den Zucker rührt er minutenlang. Dann nippt er langsam. Eine Zeremonie. Mit 17 Jahren verliess er Marokko. Sein Vater leitete die jüdische Gemeinde im Grenzort Oujda zu Algerien, handelte mit Modelabels. «Damals musste ich weg. Ich wollte mich aufmachen nach Frankreich.» Dort wurde er erfolgreicher Modeunternnehmer, lebt in Paris ist in zweiter Ehe verheiratet und hat drei Kinder. Aufgewachsen ist er mit einem anderen inzwischen erfolgreichen Modeunternehmer, dem Inhaber einer Weltmarke, The Kooples. Vor zwei Jahren wollten dessen Kinder ihren Vater zum Geburtstag überraschen und luden Familie und seine besten Freunde in den Geburtsort nach Marokko ein. «Nach 50 Jahren ging ich zum ersten mal wieder in meine Heimatstadt. Ich war wieder zu Hause.» Wenn seine Freunde und er sich treffen, sprechen sie arabisch untereinander. «Die Abende und die Gespräche sind in unserer Sprache emotionaler, lustiger und die Sprache ist viel ausdrucksreicher.» In seinen Worten schwingt die Nostalgie an eine vergangene Zeit, die so viele marokkanischen Juden nahe geht. Bis heute geniessen die Juden Marokkos einen Sonderschutz des Königs, der weit in die Geschichte zurückgeht und auch während des Zweiten Weltkriegs trotz Gegenmassnahmen des Vichy-Regimes standhielt. Dennoch wanderten Hunderttausende nach der Gründung Israels, einer Phase von Pogromen und dann anlässlich der Unabhängigkeit Marokkos 1956 vor allem nach Israel und Europa aus. Eine Art Phantomschmerz machte sich unter den ausgewanderten Juden ebenso wie in grossen Teilen der Bevölkerung Marrokos breit, einem Land, in dem die jüdische Präsenz überall sichtbar ist. Monsieur Cohen erzählt von seinem Vater, der neben seiner Muter in Israel begraben ist. «Er hat mich nie um etwas gebeten – nur um diesen letzten Wunsch.» Cohen rührt an seinem sechsten Ristretto. Erzählt Geschichten, spricht über die enge Beziehung der Familie zu Israel und die jüdische Situation der Gegenwart in Frankreich: «Die Zeiten sind angespannt.» Sorgen mache er sich allerdings nur um jene Juden in den Banlieues der Städte. Das jüdische Leben in Frankreich ist aktiv und selbstbewusst. Nach Marokko kann er nicht mehr für immer zurückgehen. Cohen spricht ruhig, blickt in den blühenden Frühlingsgarten, «Mein Leben ist hier in Frankreich. Doch ich gehe jetzt jährlich nach Marokko, wo es mich hinzieht. Ich kann nicht anders.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann