Das Jüdische Logbuch 12. Okt 2018

2018 ist nicht 1938

Oktober, Frankfurt 2018. «Warum sollte man heute die Ereignisse des Jahres 1938 nochmal so eingehend dokumentieren und erfahrbar machen?» fragt der 1928 in Hamburg geborene Klaus von Dohnanyi in der Einleitung zum Buch «1938 – Warum wir heute genau hinschauen müssen» (Suhrkamp Verlag) und verweist auf einen Schwerpunkt in vielen aktuellen Büchern: Was kann aus Geschichte gelernt und gedeutet werden? Die Frankfurter Buchmesse ist in diesem Jahr vielfältiger, politischer, offener. Migration, politischer Populismus, Konflikte oder etwa die ökologische Krise werden breit, profiliert und aus sehr unterschiedlichen Perspektiven thematisiert. Auffallend viele literarische Werke greifen im Bereich Literatur oder auch Sachbuch wieder auf die 1940er-Jahre, Flucht- und Exilgeschichten zurück. Hamburgs ehemaliger Bürgermeister von Dohnanyi will 1938 und 2018 nicht vergleichen, sondern auf Mechanismen hinweisen, die die politische Stabilität und die demokratischen Errungenschaften bedrohen können – oft aus der Situation heraus und zugleich mit langem, vermeintlich verborgenem Vorlauf. Die Herausgeber versammeln Stimmen, Dokumente und Fotografien, die auf jeder Seite des hervorragend komponierten Buches aufhorchen lassen. So liest sich des Kabarettisten Werner Fincks Ausspruch wie eine Allegorie auf die Bedrohung von Journalisten heute: «Ich heisse Finck wie der Vogel. Da ich hauptamtlicher Spassmacher bin, liegt der Spassvogel nahe. Ich habe mich damit längst abgefunden. Nur, es gibt Zeiten, da werden Spassvögel für vogelfrei erklärt, wenn sie aus der Reihe singen. Man darf sie dann jagen und abschiessen. In so einer Zeit lebe ich zur Zeit.» Oder wenn Israels spätere Premierministerin Golda Meir zur Evianer Flüchtlingskonferenz zitiert wird: «Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte geschrien: Wisst ihr nicht, dass diese ‹Nummern und Zahlen› menschliche Wesen sind, die vielleicht den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern verbringen oder in der Welt herumziehen müssen wie Leprakranke, wenn ihr sie nicht aufnehmt?» Die Frankfurter Buchmesse ist nach wie vor und vielleicht noch verstärkter Gradmesser für Themen und eine in vielfältiger Hinsicht wirtschaftlich bedrängte Branche geworden, ein Ort, wo Verleger aus aller Welt das offene Gespräch führen, andere Perspektiven einfliessen lassen und Stoffe entwickeln können. So auch der marokkanische muslimische Verleger aus Casa­blanca, der seit Jahrzehnten mit grossem Engagement Bücher zur jüdischen Tradition und Geschichte oder jüdische und israelische Autoren verlegt, zugleich auf die Debatte um den Islam in Europa eintritt und beim Austausch an der Messe sagt, auf seine Debattenbücher in Arabisch und Französisch hinweisend: «Das offene Wort bleibt ein Gradmesser für die Befindlichkeit unserer Gesellschaften.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann